7. September 2011

Libyen in der Zeit nach Gaddafi


"Die Wahrscheinlichkeit, dass Gaddafi zurückkommt, ist so groß wie die Möglichkeit, dass er mit seiner Zunge sein Ohr erreicht", erklärte vergangene Woche einer der Einwohner von Tripolis. Während man sich sicher sein kann, dass es nach 42 Jahren mit dem Regime in Libyen endgültig vorbei ist, besteht die Zukunft des Landes aus vielen Unbekannten. Wenn die letzten Kämpfe um Sirte und einige kleinere Wüstenstädte vorbei sind und der gegenwärtige Versorgungsengpass vorüber ist, bleibt vor allem die Frage, wie das nach Gaddafi entstandene politische Vakuum ausgefüllt wird. Es ist eine Frage, die sich schon zuvor in Tunesien nach Ben Ali und in Ägypten nach Mubarak stellte und die auch dort bis heute nicht beantwortet ist.

In Libyen geht es nicht nur darum, ein Regime und einen Staat zu trennen und den Staat mit neuen Voraussetzungen weiterzuführen. In Libyen muss der Staat von Grund auf neu aufgebaut werden. Ein Szenario wie im Irak möchte man auf jeden Fall verhindern: dass sich mit der Auflösung des Regimes der ganze Staat auflöst. Am besten lässt sich das an der Frage der zukünftigen nationalen Armee zeigen. Während in Tunesien und in Ägypten die Armee die Übergangszeit bis zu den Wahlen manchmal mehr schlecht als recht, aber immerhin organisiert, muss in Libyen eine Armee wie viele andere staatliche Institutionen ganz neu aufgebaut werden. Einziges selbsternanntes Gremium zur Überbrückung bis zu den Wahlen ist der Übergangsrat der Rebellen, der diese Woche endgültig von seinem bisherigen Zentrum Bengasi nach Tripolis umziehen soll.

Dieser Übergangsrat hat einen einzigen Vorteil: Er wurde nicht erst mit dem Sturz des Diktators, sondern bereits ein halbes Jahr vorher mit dem Beginn des Aufstandes in Bengasi gegründet. Sechs wertvolle Monate, um miteinander das Regieren auszuprobieren. Dabei wurde der Übergangsrat, anfangs von ein paar Anwälten in Bengasi formiert, schnell auf eine breite Basis gestellt. Vertreter des alten Regimes finden sich ebenso darin wie Stammesfürsten oder die unbekannten Repräsentanten des neuen Faktors in der libyschen Politik: der vielen Jugendlichen, die ihre Jobs verlassen und als erster politischer Akt ihres Lebens zur Waffe gegen Gaddafi gegriffen haben.

Die Vertreter des alten Regimes waren wichtig, um als Überläufer Signale zu setzten und das Regime Gaddafi von innen her zu zersetzen. Eine Rechnung, die offensichtlich aufgegangen ist, denn die große Schlacht um Tripolis ist ausgeblieben. Die anderen, die Neulinge in der Politik, waren wichtig, um den Rebellen eine neue Legitimität zu verleihen. Dazwischen gibt es nichts, denn Gaddafi hat keine Opposition zugelassen, die jetzt das Zepter übernehmen könnte. Die Zusammenarbeit zwischen Neu und Alt wird aber nun schnell zur Zerreißprobe werden. Ägypten und Tunesien haben in den ersten Monaten nach dem Sturz des Diktators mehrmals ihre Regierungen gewechselt, und es gibt keinen Grund, warum das in Libyen anders verlaufen sollte.

Die Bruchlinien werden auch in Tripolis zwischen jenen verlaufen, die die alte Zeit teilweise herüberretten wollen, und jenen, die einen vollkommenen Bruch fordern. Das gehört inzwischen zum post-revolutionären arabischen Standard. Und eine weitere Nahtstelle wird in Libyen wie in Ägypten sichtbar werden: die zwischen "Islamisten" und den Säkularisten, die eine Trennung zwischen Religion und Staat fordern.

Manchmal vermischen sich auch die Grenzen. Abdel Hakim Belhadsch, der einst eine militante islamistische Gruppe führte, von der CIA an Gaddafi ausgeliefert wurde und heute als Militärchef von Tripolis agiert, rief den Übergangsrat zum Rücktritt auf, weil er zu sehr aus Resten des alten Regimes bestehe. Ismail Al-Salabi von der Rebellenmiliz "17. Februar" in Bengasi fordert den Rücktritt des Chefs des Exekutivkomitees des Übergangsrates, der derzeit de facto Regierungschef ist, Mahmud Dschibril. Er wettert gegen die Säkularisten und warnt davor, dass das freigewordene Vermögen des Gaddafi-Regimes in die Hände der gleichen Leute gegeben werde, die es bereits früher verwaltet haben.

Ist die neue Zeit in Tunesien oder Ägypten von einem gewissen Grad an Chaos gekennzeichnet, dürfte das für Libyen umso mehr gelten. Ohne eine Armee, die für Ordnung sorgt, könnten die Menschen selbst Rache an den Vertretern des alten Regimes nehmen. Jeder in Libyen weiß, wer im alten Regime wofür zuständig war. Im Suq Al-Jumaa-Viertel in Tripolis stand kürzlich ein freundlicher Universitätsprofessor in seinem Garten und deutete in die Nachbarschaft, um zu zeigen, wo der hochrangige Offizier von Gaddafis Miliz lebt. Die Nachbarn haben ihm ein Ultimatum gestellt, um wegzuziehen, sonst würden sie das auf ihre eigene Art erledigen – das würde der Offizier nicht überleben. Dann deutete er in die andere Richtung. Dort wohnt jener Mann, der über die Menschen in diesen Häusern Berichte geschrieben hat. Den werde man anzeigen, sobald die Gerichte wieder arbeiten, kündigte der Professor an. Offene Rechnungen gibt es viele.

Dann gibt es noch das Problem der allerorten sichtbaren bewaffneten jungen Männer, die sich selbst zu Recht als die Träger des Aufstandes sehen. Von ihnen geht, wie von den Menschen auf dem Kairoer Tahrir-Platz, die größte Legitimität aus. Sie haben die Opfer gebracht, und sie wollen mitbestimmen, wie es weitergeht. Sie haben wenige Vorstellungen davon, wie Politik gemacht wird oder wie man eine Partei gründet, aber sie werden sich genauso wenig wie die Ägypter auf dem Tahrir-Platz einfach auf die politische Seitenlinie drängen lassen. Der Faktor Straße wird wie in Tunesien und Ägypten eine wichtige Rolle für die Politik spielen. Die Gefahr in Libyen: Die Straße ist bis an die Zähne bewaffnet.

Während der Streit um eine neue Regierung, eine zukünftige Verfassung und eine Rechenschaft der Vertreter des alten Regimes in Ägypten mit immer neuen Protesten auf dem Tahrir-Platz vorangetrieben wurde, könnte er in Libyen leicht erneut eine bewaffnete Form annehmen.

Sicher lassen sich die Waffen nicht über Nacht einsammeln. Aber viele der Kämpfer werden früher oder später wieder an ihre Arbeitsstätten zurückkehren, der Rest muss in die künftigen Sicherheitsapparate und ins neue Militär integriert werden. Allerdings ließe sich dieser Prozess leicht sabotieren. Ein paar Anschläge einer Gaddafi-Guerilla, und sofort würde der Ruf nach den bewaffneten Jugendlichen "zur Verteidigung der Revolution" laut.

So viele Hürden das neue Libyen zu überwinden hat, so groß sind seine Möglichkeiten für die Zukunft. Das Land ist kein Bittsteller. Zum Neuaufbau reichen zunächst die Milliarden im Ausland eingefrorener Gelder des alten Regimes. Wenn dann die Ölproduktion einmal läuft, kann Libyen einen eigenständigen Boom zustande bringen, von dem auch seine Nachbarn profitieren: Wahrscheinlich wird der Wiederaufbau auch zahlreiche ägyptische und tunesische Arbeitskräfte absorbieren.

Dabei wird es für Libyen auch darum gehen, einen neuen Platz in der Arabischen Welt zu finden. Seine ersten natürlichen Partner werden dabei seine "revolutionären" Nachbarn Tunesien und Ägypten sein. Dass es jetzt von der algerisch-tunesischen Grenze bis zum Suezkanal ein zusammenhängendes Territorium gibt, in dem eine neue arabische Welt aufgebaut wird, kann man kaum überschätzen. Das afrikanische Element wird gegenüber dem ostarabischen Raum in der arabischen Welt verstärkt. Und es werden gerade andere arabische Länder wie Saudi Arabien sein, die versuchen werden, diesen Prozess zu torpedieren. Ähnlich wie in Ägypten wird Saudi Arabien versuchen, über "radikale islamistische Elemente" und "Salafisten" an Einfluss zu gewinnen, um die arabische Aufstandsbewegung auszubremsen.

Selbstverständlich wird sich die Geschäftswelt in Tripolis die Klinke in die Hand geben. Von jeder politischen Einmischung sollten Europa und die USA allerdings Abstand nehmen.

Der Prozess des politischen Aufbaus sollte nicht durch ausländische Einmischung seine Legitimität verlieren. Überhaupt ist es verwegen zu glauben, man könne den Libyern jetzt Bedingungen diktieren. Wenn die jetzigen Versorgungsengpässe überwunden sind, kann man den Libyern kaum mehr auferlegen, wo es langgehen soll. Zudem würde jede Einmischung von außen das innere Kräftegleichgewicht verändern und die Stabilität gefährden, die der Westen braucht, um mit Libyen ins Geschäft zu kommen.

Schon jetzt wird eine Polarisierung in Libyen rund um den Nato-Militäreinsatz deutlich. Indem sie sich von ihm distanzieren, wittern gerade "islamistische Gruppierungen" ihre Chance. Der beste Rat für Paris, London und Washington ist, der Verlockung zu widerstehen, jetzt ein politisch maßgeschneidertes Libyen aufbauen zu wollen. Man wird sich ohnehin noch wundern, wie stark unter den Libyern Patriotismus und arabischer Nationalismus sind – und das Bedürfnis, das Land trotz des militärisch entscheidenden Nato-Einsatzes nicht an den Westen zu verkaufen.

Quelle: Badische Zeitung

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